Aus der Geschichte der Ortschaft Reisach

Der Gründer von Reisach und das genaue Jahr der Entstehung des Dorfes•sind nicht bekannt, aber Reisach muß schon sehr alt sein, denn bereits im Jahre 1039 wird an der oberen Gail ein Ort Reisach erwähnt.

Im 15. Jahrhundert läßt sich hier das Geschlecht der Edlen von Reisach nachweisen, deren Stammschloss ober der ehemaligen Reisacher Schmiede stand, wo jetzt eine große Linde wächst. Jenes Schloß hieß Frohnthurn; es besaß also einen Turm. Die Bauern dieser Gegend aber waren durch Frohndienste und Abgaben tributpflichtig. Einer der Edlen von Reisach wurde ein berühmter Arzt und Mathematiker und bekleidete 1516 an der Wiener Universität das Rektorat. Damals sollen etwa 7000 Studenten die Universität Wien besucht haben. Der Gelehrte aus Reisach befaßt sich mit der Ausarbeitung eines Kalenders, welcher dem Fortschritt der Wissenschaft entsprechen sollte.

Die Herren von Reisach übersiedelten in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts ins Steirische Mürztal, wo sie das Gut Lichtenegg erworben hatten. Das Reisacher Schloß Frohnthurn und das Gut Schönberghof, den gegenwärtigen Pirschl, erwarb 1618 ein gewisser Wilhelm, kurze Zeit später aber Ludwig von Schönberg, in dessen Geschlechterfolge diese Besitzungen nun lange Zeit blieben. Reisach erlebte eine friedliche Vergangenheit. Nur der Türkensturm des Jahres 1478 hat die Bewohner aus ihrem Frieden aufgeschreckt. Als nämlich die türkischen Horden am 27.Juli 1478 Hermagor ausgeplündert und eingeäschert hatten, stürmten sie in das obere Gailtal hinauf. Noch ehe die wilden Reiter Reisach erreichten, flohen seine Bewohner mit ihrem Vieh und den wenigen Habseligkeiten in den dunklen Ebenwald. Alle Häuser Reisachs waren verlassen, die Pfarrkirche war gesperrt. Nur ein stummer Bewohner war im Ort zurückgeblieben. Dieser Mann läutete die Kirchenglocken und gab vom Turmfenster aus den Türken zu verstehen, daß hier alle Leute gestorben seien. Die Feinde versuchten nun in die Kirche einzudringen. Mit ihren krummen Säbeln schlugen sie gegen das schwere Portal, das aber ihren Hieben widerstand. Dann verließen sie grimmig den Ort, nachdem sie noch in einige Häuser die Brandfackel geworfen hatten. Die eiserne Kirchentüre wurde lange Zeit als Kornkammertüre bei der Ledererhube verwendet, wo man bis in die Gegenwart herauf die Säbelhiebe besichtigen konnte. Noch einmal, am 29. März 1797, als Napoleon französische Soldaten von Pontafel über das Nassfeld in das obere Gailtal schickte, nahmen die Bewohner von Reisach Zuflucht im dichten Ebenwald. Weil sich aber die Franzosen einer sehr strengen Kriegsdisziplin fügten, kehrten die Reisacher sehr bald wieder in ihre Behausungen zurück.

Die Ortschaft Reisach besaß bereits im Mittelalter eine Kirche. Im Volk lebt noch die Überlieferung, daß die erste Kirche in Reisach zur Zeit der Tiroler Gräfin Margaretha Maultasch um 1330 erbaut wurde. Erstmals erfahren wir davon durch eine Urkunde vom 17. Februar 1375, welche einen Vikar Volreid zu Reisach als Zeugen eines Grundhandels erwähnt. Die Kirche St. Peter und Paul zu Reisach war lange Zeit eine Filiale der Obergailtaler Urpfarre St. Daniel. Die gegenwärtige Pfarrkirche ist ein einfacher Sakralbau des vorigen Jahrhunderts, der 1850 geweiht wurde. Von seiner bescheidenen Einrichtung verdient die Kanzel im Stile des Spätempire besondere Aufmerksamkeit.

Im Südosten von Reisach steht mitten im Felde noch die kleine Kirche St. Anastasia, die bereits im Jahre 1600 unter dem Namen St. Staßen erwähnt wird. Die kleine, einsame Kirche verdankt ihre Entstehung dem Gelübde eines Edelmäpnes vom Schloß Frohnthurn. Jeder Edle aus Reisach liebte es, auf hoher See zu fahren. Als er einmal auf der Adria Schiffbruch erlitt, gelobte er, im Falle seiner glücklichen Heimkehr eine Kirche zu erbauen. Er überlebte das Unglück und löste 1575 sein Gelübde ein. Er ließ, wohl im Gedanken an das weite Meer, das Kirchlein in einer sehr wasserreichen Gegend erbauen. Zwei Quellen sprudeln nämlich unter seinem Fußboden hervor und eine Quelle entspringt knapp neben der Kirche. Die Straßenquellen, wie die Einheimischen diese Bächlein bezeichnen, gelten als das frischeste Wasser in der ganzen weiten Umgebung.

Dass der Edle von Reisach gerade die heilige Anastasia, die Märtyrerin von Sirmium, dem heutigen Mitrovicza in Jugoslawien, als Patronin für seine Kirche gewählt hat, mag einer zweifachen Überlieferung entsprungen sein. Die Heilige, die trotz aller Schikanen eines ihr aufgezwungenen, heidnischen und sittenlosen Mannes ihre Keuschheit zu bewahren wußte, lebte in der Nähe des erwähnten Schiffsunglückes, und zum anderen bedeutet das griechische Wort „Anastasia” soviel wie „die vom Tode Auferstandene”. Der Edelmann aus dem oberen Gailtal empfand seine Rettung aus Seenot als ein ihm geschenktes zweites Leben. Und diesem wiedergewonnen Leben verdankt Reisach seine „Dreiwasserkirche” mit der offenen Vorlaube und dem hölzernen Dachreiter.

Ein Pfarrer von Grafendorf entdeckte einst, daß am Fuße des Reißkofels eine Heilquelle dem Berg entspringt. Er baute unter dem Felsantlitz eine erste, primitive Hütte, um hier zu kneippen. In jenen Jahren zog auch Frau Anna Jochum öfter durch die Wälder am Fuße des Felsengebirges und sammelte Heilkräuter. Sie übernahm vom Pfarrer die Kneipphütte und erreichte darin um 1830 das erste Heilbad, das von den Einheimischen gerne aufgesucht wurde, wenn sie irgendwo die Gicht zwickte. Das Wasser wußte sie mit Kräutern und Latschenzweigen zu würzen, um dessen Heilkraft noch zu stärken.

Anna Jochum vermählte sich mit dem Schneider Josef Brunner aus Grafendorf, der das kleine Grundstück mit der Heilquelle käuflich erwarb. Die Brunners waren sehr fleißige Leute. Sie rodeten die Umgebung, erbauten ein kleines Holzhaus und Wirtschaftsgebäude, fütterten bald eine Kuh und bepflanzten ein Erdäpfeiakkerl. Ihr Sohn Johann, ebenfalls ein Schneider, war hier der erste Badwirt, der mehrere Holzwannen in die Badehütte stellte, welche von den Bewohnern des Gailtales oft und gerne besucht wurden.

Um 1900 haben das Reißkofelbad auch die Wiener entdeckt. Sie wurden vom Badwirt, Johann Brugger junior, mit einem Kaleschwagen auf den Bahnhöfen in Oberdrauburg oder Hermagor abgeholt und mit dem Pferdegespann in ihr etwa 25 km entferntes Urlaubsidyll im Reiche des Reißkofels geführt.

Im Jahre 1912 baute Johann Brunner anstelle seiner kleinen Realität das erste stattliche Haus mit Balkonen und sechs Fremdenzimmern. Dieses Haus wurde wiederholt erweitert, und als um 1930 auch deutsche Gäste hierher fanden, um in dieser weltentrückten Gegend eine Kur zu machen, wurde ein weiteres Gäste-haus erbaut. Seit 1966 zeigt sich das Reißkofelbad den Besuchern in seiner gegenwärtigen Gestalt. Hier wurde ein Menschenwerk so harmonisch in eine groß-artige Naturszenerie von dunklem Wald und gigantischer Felspracht hineinkomtponiert, daß jeder Besucher, der erstmals dieses Naturparadies betritt, das Reißkofelbad als unwahrscheinlich schön empfindet.

Das Mineralbad enthält radioaktive Elemente sowie kleine Mengen heilkräftiger Mineralien und wird gegen Rheuma, Ischias, Nervosität sowie für Rekonvaleszente und zur allgemeinen Erholung ärztlich empfohlen. Und ein Vers an der Westfront des Hauses verkündet:

„Dieses Wasser ist für alle Übel gut, wer es nur recht gebrauchen tut! Heilt Wunden, Sorg’ und Schmerz, tröstet manch betrübtes Herz!”

Untrennbar mit der Geschichte von Reisach verbunden ist auch die Geschichte des Reißkofels, jenes Berges, dessen imposante Felsenmauer wie eine unge-heure, geheimnisvolle Feste die Gailtaler Alpen machtvoll überragt. In uralten Zeiten wirkte der Reißkofel noch gewaltiger. Das Erdbeben des Jahres 1348 brachte jedoch einen Teil seiner Felsmassen zum Absturz. Mächtige Schutthalden ziehen sich seitdem vom Fuße des Berges quer durch das Tal, fast bis zum Gailfluß hinab. Nach einer uralten Überlieferung soll der Reißkofel durch den Absturz eine keltisch-römische Siedlung unter seinem Schutt begraben haben. Zu beiden Seiten des Rinsenbaches, der unter dem Reißkofel entspringt, soll sich jene antike Stadt Troi-Risa ausgebreitet haben, für welche es allerdings keine historischen Quellen gibt. Daß die Ahnen der Gailtaler dieses vermeintliche Geschehen nicht ganz ihrer Phantasie entspringen ließen, beweisen einige Funde aus der Römerzeit im Schotterfächer am Fuße des Reißkofels. Vielleicht, kann der Spaten des Archäolo-gen einmal etwas Licht in dieses historische Dunkel bringen. Trotz aller Zweifel sind viele Gailtaler vom Bestehen der Stadt Risa überzeugt und die Sage von ihrer Vernichtung wird auch die kommenden Geschlechter überdauern. Man erzählt sich nämlich, daß in der Stadt Risa unter dem Reißkofel reiche Menschen lebten, die aber im Laufe der Zeit ein liederliches und übermütiges Leben zu führen begannen.

Als die Stadt Risa noch stand, gingen drei Herren aus der Stadt hinüber ins Drautal, um notwendige Geschäfte zu besorgen. Um den weiten Weg abzukürzen, wanderten sie über den Jaukensattel und durch die Ochsenschlucht, auf einem Fußweg zwischen Reißkofel und Jauken nach Norden. Als sie auf den Scheitel des Sattels kamen, begegnete ihnen ein alter Schafhirte. Dieser erzählte, daß er in aller Frühe drei fremde Männer mit dreispitzigen Hüten und langen Schwertern über den Grat des Reißkofels bis gegen den Sattel herabgehen gesehen habe. Voll Neugierde sei er den sonderbaren Männern nachgeschlichen und habe ihre Rede belauscht. Da habe er gehört, wie sie miteinander sprachen: „Die Bewohner der Stadt Risa sind schon so gottlos, so schlecht und verdorben, daß Gott den Un-tergang der Stadt beschlossen habe. Und uns hat der Herrgott als Schicksals-männer ausersehen, seinen Beschluß durchzuführen. Nur wenige Tage noch, und Risa ist nicht mehr!” Hierauf zogen die Männer ihre Schwerter aus der Scheide, schwangen sie nach allen vier Weltgegenden und stellten sich einer nach Osten, einer nach Westen und einer nach Süden auf. Nun schlugen sie mit den Schwertern auf den felsigen Boden, daß es heftig klirrte, und verschwanden. Als der Schafhirte seine Erzählung beendet hatte, lachten ihn die drei Herren aus Risa an und meinten, er habe Gespenster bei hellichtem Tag gesehen. Hierauf gingen sie auf die Ochsenschlucht zu und beachteten das Gerede des alten Mannes nicht weiter.

Nach längerer Abwesenheit kehrten die drei reichen Herren wieder über den Gebirgseinschnitt in das Gailtal zurück. Als sie an jene Stelle kamen, wo man das erste Mal in das Tal hinabblicken kann, blieben sie starr vor Entsetzen stehen. Das ganze Tal war verwüstet, mit Geröll, Schotter und Felsblöcken bedeckt. Von der großen und schönen Stadt Risa war nichts mehr zu sehen.

Da fielen die drei Handelsleute auf ihre Knie nieder, zerrauften sich das Haar, weinten und jammerten über den Verlust ihrer Heimat und ihres ganzen Reichtums. Nach einiger Zeit erhoben sie sich wieder. Noch einen traurigen Blick warfen sie auf ihre Stadt hinab. Dann wandten sie dem Gailtal den Rücken und zogen hinaus in die weite, fremde Welt.